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Jugend-Check zum ReferentenentwurfRegierungsentwurf
07. Apr. 2022

Sanktionsmoratorium

Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Stand: 16.03.2022)

Ressort: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)

Quellen

Ziel des Gesetzentwurfs

Mit dem Elften Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch soll ein Zwischenschritt hin zu einer gesetzlichen Neuregelung der Rechtsfolgen bei Pflichtverletzungen, sogenannte Sanktionen, für Menschen, welche Arbeitslosengeld II (ALG II) beziehen, vollzogen werden. Vgl. „Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch“ (2022), 5. Handlungsbedarf besteht aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 5. November 2019, welches einige der Sanktionsregelungen als unvereinbar mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum befunden hat. Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16 -, BVerfGE 152, 68-151 (juris). Daher sollen übergangsweise Kürzungen des ALG II aufgrund von Pflichtverletzungen gem. § 31a Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für Arbeitssuchende bis zum Ablauf des 31. Dezember 2022 ausgesetzt, § 31a SGB II mithin nicht angewendet werden (sog. Sanktionsmoratorium in der Grundsicherung für Arbeitssuchende). Vgl. Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, 3.

Zusammenfassung möglicher Auswirkungen

Das Kompetenzzentrum Jugend-Check hat folgende mögliche Auswirkungen identifiziert:

  • Die geplante Nichtanwendung der Sanktionen bei Pflichtverletzungen (§ 31a SGB II) wie z.B. Weigerung der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses könnte dazu führen, dass junge Menschen, welche ALG II beziehen weniger Druck verspüren, auch niedrig entlohnte und instabile Arbeit zur Überwindung finanzieller Engpässe anzunehmen.
  • Die Nichtanwendung könnte kurzfristig zudem dazu beitragen, dass sich betroffene junge Menschen aufgrund der ausbleibenden Kürzung bzw. des vollständigen Wegfalls des ALG II weniger häufig und weniger stark verschulden. Denn junge Menschen, welche ALG II beziehen, haben bereits oft Schulden. Besonders für junge Menschen, welche nicht über ein Netzwerk aus Familie und Freunden verfügen, die im Notfall in der Lage wären auszuhelfen, könnte eine mögliche geringere Schuldenbelastung von Bedeutung sein, um z.B. Wohnungslosigkeit zu verhindern.
  • Zudem könnte die Nichtanwendung junge Menschen darin unterstützen, soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten. Denn Leistungsminderungen können zu einem Rückzug junger Menschen aus ihrem sozialen Umfeld beitragen. Dabei kommt gerade für junge Menschen in der Phase der Verselbstständigung dem Austausch mit Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung zu.

Betroffene Gruppen junger Menschen

Betroffene sind in der für den Jugend-Check relevanten Altersgruppe junge Menschen zwischen 15 und 27 Jahren, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II beziehen und damit potentiell von Sanktionen betroffen sein könnten. Im Februar 2022 waren 670.846 junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren als erwerbsfähige Leistungsberechtigte gemeldet. Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Hrsg., „Grundsicherung für Arbeitsuchende (Monatszahlen)“, Februar 2022, Tab. 2.1. Damit sind ca. sieben Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren betroffen. Vgl. Bundesagentur für Arbeit Tab. 4.1, Daten von Oktober 2021.

Besonders betroffen sind junge Menschen im ALG II-Bezug, die aktuell aufgrund von Pflichtverletzungen einen verminderten Leistungsbetrag erhalten bzw. im laufenden Jahr bereits eine solche Sanktion erhalten haben und daher bei erneuter Pflichtverletzung erhöhte Sanktionsbeträge erwarten müssten. Im Jahr 2015 waren bundesweit sieben Prozent der unter 25-Jährigen Leistungsberechtigten von Sanktionen aufgrund von Pflichtverletzungen betroffen. Insgesamt waren im Jahr 2019 arbeitslose Menschen im ALG II-Bezug unter 25 Jahren etwa doppelt so häufig von Leistungsminderungen betroffen wie Arbeitslose in der Altersgruppe 25 bis unter 55 Jahren. So waren 2019 in der Altersgruppe 25-55 Jahre nur 4,5 Prozent der arbeitslosen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten von Sanktionen betroffen gegenüber 8,8 Prozent der unter 25-Jährigen. Vgl. Bundesagentur für Arbeit Tab. 4.

Der Gesetzentwurf wirkt sich zudem besonders auf junge Leistungsberechtigte ohne Schulabschluss bzw. mit einem Hauptschulabschluss aus, da diese überdurchschnittlich häufig von Sanktionen betroffen sind. Vgl. Markus Wolf, „Schneller ist nicht immer besser: Sanktionen können sich längerfristig auf die Beschäftigungsqualität auswirken“, 24. Juni 2021, https://www.iab-forum.de/sanktionen-im-sgb-ii-menschen-mit-geringer-bildung-werden-haeufiger-sanktioniert/ (zuletzt aufgerufen am: 14.03.2022).

Jugendrelevante Auswirkungen

Vorübergehender Wegfall bestimmter Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende

Nichtanwendung des § 31a SGB II

Durch den vorliegenden Gesetzentwurf sollen die Sanktionen in § 31a SGB II bei Pflichtverletzungen i.S.d. § 31 SGB II bis zum Ablauf des 31. Dezember 2022 ausgesetzt werden, vgl. § 84 SGB II. Vgl. Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, 3. Denn die vorgesehenen Leistungskürzungen von 60 Prozent des Regelbedarfs sowie die vollständige Kürzung des ALG II-Regelbedarfs wurde vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft. Vgl. BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16 -, BVerfGE 152, 68-151, Rn. 189 ff., 208 ff. (juris).

So minderte sich bislang gem. § 31a Abs. 1 S. 1 und 2 SGB II das ALG II bei einer Pflichtverletzung i. S. v. § 31 SGB II (z.B. fehlende Nachweise über eine Eingliederungsvereinbarung oder Weigerung der Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses) um 30 Prozent und bei einer wiederholten Pflichtverletzung um 60 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfiel das ALG II vollständig, § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II. Nach § 31a Abs. 2 SGB II war das ALG II für unter 25-jährige bei einer Pflichtverletzung auf die Bedarfe nach § 22 SGB II (Bedarfe für Unterkunft und Heizung) beschränkt. Abweichend von den Regelungen für über 25-Jährige sah § 31a Abs. 2 S. 2 SGB II für Leistungsberechtigte unter 25 Jahren bereits ab der zweiten Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres die vollständige Kürzung des Regelbedarfs, inklusive der Leistungen nach § 22 SGB II, vor. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf sollen diese Sanktionsregelungen ausgesetzt werden.

Aufgrund des Urteils des BVerfG und der darauffolgenden Anpassung der fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit ist die Sanktionierung nach §§ 31, 31a SGB II momentan auch für unter 25-Jährige bereits eingeschränkt. Sanktionen bis zu einer Höhe von 30 Prozent des Regelbedarfs für erwerbsfähige leistungsberechtigte Personen sind allerdings nach wie vor möglich. Vgl. Bundesagentur für Arbeit, Hrsg., „Weisungen zum Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Pakete) sowie ergänzende Regelungen“, 2022, 13.

Die Nichtanwendung der Sanktionsvorschriften des § 31a SGB II bei Pflichtverletzungen in der Grundsicherung für Arbeitssuchende könnte dazu führen, dass junge Menschen, welche ALG II beziehen, weniger Druck verspüren, auch niedrig entlohnte und instabile Arbeit zur Überwindung kurzfristiger finanzieller Engpässe anzunehmen. Zwar zeigen Studien, dass Leistungsminderungen aufgrund von Pflichtverletzungen bei unter 25-Jährigen zu einer schnelleren Beschäftigungsaufnahme beitragen können. Vgl. Wolf, „Schneller ist nicht immer besser: Sanktionen können sich längerfristig auf die Beschäftigungsqualität auswirken“, 3; vgl. Helmut Apel, „Stellungnahme zu Sanktionen im SGB II anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags am 29. Juni 2015“, ISG Working Papers, 2015, 54, https://www.isg-institut.de/home/wp-content/uploads/ISG_working_paper9_apel.pdf (zuletzt aufgerufen am: 14.03.2022). Diese Beschäftigungsaufnahme dient allerdings oft nur zur kurzfristigen Überbrückung der finanziellen Notlage Vgl. Helmut Apel und Dietrich Engels, „Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB 11 und nach dem SGB 111 in NRW. Endbericht.“ (Köln, 2013), 54. und ist durchschnittlich niedriger entlohnt und instabiler. Dies gilt auch, wenn auf Qualifikationsniveau kontrolliert wird. Vgl. Wolf, „Schneller ist nicht immer besser: Sanktionen können sich längerfristig auf die Beschäftigungsqualität auswirken“. Durch die Nichtanwendung könnten für junge Menschen die Qualifizierung für den Arbeitsmarkt in den Vordergrund rücken und somit finanzielle Notlagen junger Menschen nachhaltiger verhindert werden.

Weiterhin könnte die Nichtanwendung der Sanktionsvorschriften kurzfristig dazu beitragen, dass sich betroffene junge Menschen weniger häufig und weniger stark verschulden. Junge Menschen, welche ALG II beziehen, haben bereits oft Schulden. Sind sie zudem noch von Sanktionen betroffen, erhöht sich der Anteil verschuldeter junger Menschen im ALG II-Bezug laut Studienergebnissen von 43 auf 63 Prozent. Vgl. Apel und Engels, „Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB 11 und nach dem SGB 111 in NRW. Endbericht.“, 57f. Von den unter 25-Jährigen Sanktionierten sehen dabei 43 Prozent ihre Schulden als Resultat der Leistungsminderungen an. Vgl. Apel und Engels, 58. Besonders für junge Menschen, welche nicht über ein Netzwerk aus Familie und Freunden verfügen, die im Notfall aushelfen können, könnten eine mögliche geringere Schuldenbelastung von Bedeutung sein, um z.B. Wohnungslosigkeit im Falle wiederholter Pflichtverletzung und damit einhergehenden Wegfalls von Leistungen nach § 22 SGB II, zu verhindern.

Zudem könnte die Nichtanwendung der Sanktionsvorschriften bei Pflichtverletzungen im SGB II junge Menschen darin unterstützen, soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten. Bei einer Leistungsminderung um 60 Prozent berichten 56 Prozent der jungen Menschen unter 25 Jahren davon, dass sie sich weniger häufig mit Freundinnen und Freunden treffen. Vgl. Apel und Engels, 56. Dabei kommt gerade für junge Menschen in der Phase der Verselbstständigung dem Austausch mit Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung zu.

Insbesondere auch für junge Menschen, welche ALG II beziehen und keinen Schulabschluss oder einen Hauptschulabschluss haben, könnte die Nichtanwendung der Sanktionsregelungen bedeutsam sein. Denn Menschen mit geringer formaler Bildung werden Studien zufolge auch bei gleichem Motivationsniveau wie höher Gebildete häufiger sanktioniert. Vgl. Andreas Moczall u. a., „Sanktionen im SGB II – Menschen mit geringer Bildung werden häufiger sanktioniert“, 25. Juli 2017, https://www.iab-forum.de/sanktionen-im-sgb-ii-menschen-mit-geringer-bildung-werden-haeufiger-sanktioniert/. Studienergebnisse weisen darauf hin, dass dies u.a. darauf zurückzuführen ist, dass diese sich seltener gegen als für sie unzumutbar empfundene Maßnahmen wehren und von den rechtlichen Möglichkeiten, Sanktionen abzuwenden, seltener Gebrauch machen. Vgl. Moczall u. a. Denn gerade junge Menschen mit niedriger formaler Bildung, welche sich noch nicht lange im Leistungsbezug befinden, könnten weniger über mögliche Wege zur Abwendung von Sanktionen wissen bzw. die Einlegung eines Rechtsmittels könnte für sie eine höhere Hürde darstellen.

Für junge Leistungsberechtigte könnte sich die Nichtanwendung der Sanktionen bei Pflichtverletzungen im SGB II außerdem förderlich auf ihre psychische und physische Gesundheit auswirken, da die Sorge um Leistungsminderungen und den damit einhergehenden Auswirkungen entfällt. So verweisen Studien auf „einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen mentalen und gesundheitlichen Problemen auf der einen und Sanktionserfahrungen auf der anderen Seite“. Apel, „Stellungnahme zu Sanktionen im SGB II anlässlich der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags am 29. Juni 2015“, 6. Fallen Sanktionen weg, könnten junge Menschen weniger von damit zusammenhängenden seelischen Probleme wie Angst, Niedergeschlagenheit oder Reizbarkeit Vgl. Apel und Engels, „Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB 11 und nach dem SGB 111 in NRW. Endbericht.“, 57. betroffen sein.

Anmerkungen und Hinweise

Ob eine kurzfristige Nichtanwendung der Sanktionsregelungen bei Pflichtverletzungen bis Ende 2022 bereits die aufgeführten Auswirkungen erzielt, erscheint fraglich. Denn zum einen bleiben Leistungsminderungen aufgrund von Meldeversäumnissen und damit die Gefahr von Auswirkungen wie Verschuldung, wenn auch in abgemilderter Form, bestehen. Diese sollten im Referentenentwurf zunächst auch ausgesetzt werden. Vgl. „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung eines Sanktionsmoratoriums (Sanktionsmoratorium)“ (2022), 3. Zum anderen ist die Nichtanwendung der Sanktionen bei Pflichtverletzungen zunächst auf Ende 2022 begrenzt. Für junge Menschen bleibt unklar, wie es ab 2023 weitergeht. Voraussichtlich wird daher die langfristige Ausgestaltung der Sanktionen im Rahmen des zu schaffenden des Bürgergeldes Vgl. Entwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, 5. entscheidend dafür sein, wie sich die Situation für junge von Sanktionen betroffene Menschen im SGB II-Bezug entwickelt.

Quellen

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